I love you, Mama
Die Liebe zur Mutter, zu den Eltern ist etwas, das in unserer Gesellschaft nicht in Frage gestellt werden darf. Sozialisiert, auf der Grundlage christlicher Werte haben wir Mutter und Vater zu ehren und die Lektüre von Büchern wie Alice Millers Die Revolte des Körpers mag zunnächst befremdlich erscheinen, geht es doch genau darum, dieses grundlegende Ehrgefühl in Frage zu stellen.
Auf Seite 7 des aktuellen I love you Magazines, der Mama Issue, steht There is an expiry date on blaming your parents for steering you in the wrong direction; the moment you are old enough to take the wheel, responsibility lies with you, gesagt soll das J.K. Rowling haben, die Autorin der Harry Potter Bücher. Vor diesem Hintergrund erscheint die Reise des jungen Zauberlehrlings wie eine Metapher für das Erwachsenwerden, in einer Deutlichkeit wie sie jeder spüren kann, doch nur die wenigsten in der Lage sind zu realisieren, geschweige denn zu leben. Dass Harrys Eltern bereits zu Beginn seines Lebens gestorben waren konnte ihm nicht den Lösungsprozess ersparen, ein Prozess übrigens, der niemandem erspart bleibt. Die Last seiner Herkunft war ihm in Form einer Narbe in die Stirn geritzt und die Aufgabe seiner Adoleszenz bestand darin, diese Herkunft, die ihm mit in die Wiege gelegt war, zu überwinden, um letztlich der werden zu können, der er ist. Hätte er sich ergeben, wäre er zugrundegegangen – Lord Voldemort hätte ihn getötet. Ein Kampf, der milliardenfach tagtäglich passiert, gelingt, scheitert… wenn auch nicht in einer solchen Dramatik wie sie J.K.Rowling beschreibt.
Was den Charakter des Harry Potter aber von vielen anderen Menschen unterscheidet ist die Tatsache, dass er an keiner Stelle des Buches seine Eltern verachtet. Wie könnte er sie hassen, für das was sie ihm angetan haben, die Last, die sie ihm aufbürdeten! Voll Liebe – so wird es beschrieben – hat sich seine Mutter aber über ihn gebeugt, um ihn zu schützen vor den Angriffen des bösen Zauberers. Sie hat sich geopfert, ebenso, wie sich jede Mutter für ihr Kind opfert, jede auf ihre eigene Weise, nach bestem Wissen und Gewissen. Dieses Wissen und Gewissen ist mal besser und reiner, mal weniger ausreichend und gut – aber dennoch ist es etwas, was jedes (erwachsene) Kind respektieren kann, auch wenn es es nicht versteht. Eine Art von Respekt, der dem 4. Gebot Du sollst Mutter und Vater ehren wieder Sinn geben kann. Ein Respekt aber, der nicht zu verwechseln ist mit Ehrerbietung und Verständnis oder gar Vergebung.
Nicht anders ist die andere Seite der Ehrerbietungs-Vergebungs-Medaille, der Hass und die Verachtung. Keiner er beiden Wege hätte Harry Potter lange am Leben gehalten. Keiner der beiden Wege hält irgendwen lange am Leben. So bleibt man immer der hilflose, zappelnde Säugling, das kleine Kind, das vergeblich bettelt um die Anerkennung, den Selbstrespekt, die innere Stabilität, für die die Eltern den Grundstein zu legen haben, die sich aber jeder für sich selbst erkämpfen muss auch wenn die Eltern es versäumt haben, das Kind auf den rechten Weg zu schubsen.
Was allen Menschen gemein ist, ob mit oder ohne Eltern, ist die Suche und die mehr oder weniger glückliche Findung seines Selbst und ich möchte behaupten, dass diese Suche für jeden gleich schwer ist, auch wenn es von außen betrachtet nicht immer so aussehen mag. Don’t compare your life to others. You have no idea what their journey is about. Und es mag schön sein, Eltern zu haben, die einen auf dieser Reise “begleiten” – sofern das möglich ist – ebenso kann es hilfreich sein, keine Eltern zu haben, die einem auf dieser Reise im Weg stehen. Meist sind es aber Eltern, die einen nicht gehen lassen und Kinder, die nicht gehen wollen, Kinder, die weit über die eigentliche Kindergrenze hinaus die Füße unter den metaphorischen elterlichen Tisch stellen, Eltern, die das bereitwillig zulassen – bewusst, wie unbewusst – in beiden Fällen höchst bedenklich, Symptom und Ursache einer (kranken) Gesellschaft, die nur aus Kindern besteht, Kindern, die ein bisschen Leben spielen, die Krieg spielen… Kindern, die ihren Kindern beim Spielen zusehen, ohne Verantwortung für irgendwas, wo sollten sie es auch gelernt haben?
Der im Dezember letzten Jahres in Wien (!) verstorbene Thorwald Dethlefsen – man kann von ihm und seinen Sichtweisen halten was man mag, er war ein brillianter Redner, der immer wichtige Denkanstöße liefern konnte – beschreibt es in einem seiner Esoterischen Vorträge (genauer in Ödipus der Rätsellöser) wie folgt: “Wir leben in einer Kultur, in der die zweite Geburt so gut wie nie mehr stattfindet. Was zur Folge hat, dass wir in einer Kinderkultur leben.” Diese zweite Geburt, auch Abnabelung genannt, betrifft zum einen die Trennung von den realen Eltern mit dem Absterben der von ihnen in uns gepflanzten Vorstellungen von einer heilen Welt, zum anderen aber auch die Nicht-Projektion, d.h. die bewusste Nichtübertragung elterlicher Vorstellungen auf “Ersatzeltern”, wie Partner, Beruf, Hobbies, Staat, etc.
Dieser Abnabelungsprozess ist zunächst ein sehr dunkler, einsamer, der in früheren Kulturen insofern “begleitet” wurde, als dass er essentieller Teil des gesellschaftlichen Lebens war, die Eltern im Initiationsritus ihre Kinder verloren und die Kinder zu Erwachsenen wurden. Heute steht man in der Regel allein da auf weiter Flur, wenn man beginnt die Weltsicht der Eltern in Frage zu stellen und damit die eigenen Eltern an sich, um auszuziehen, um ein eigenes Weltbild zu finden, das wiederum jenseits von all jenem liegt, was uns Werbung, Fernsehserien und weiß der Kuckuck was noch alles zu vermitteln versuchen. Dies wiederum weiß Byron Brown in Befreiung vom inneren Richter gut zu erläutern. Doch das nur am Rande… Hello Darkness my old friend.
In das Weltbild des Erwachsenen hinüberzutreten bedeutet, so Dethlefsen, das heile Weltbild mit all seinen Erwartungen sterben zu lassen, mit den Erwartungen, dass immer jemand kommt, und uns die Welt wieder heilmacht, so wie es die Eltern taten oder wie wir es von den Eltern oder entsprechender Projektionen erwartet haben, bzw. bis heute erwarten. Der Erwachsenenraum ist dadurch gekennzeichnet, dass er nicht “heil” ist, denn wir selbst sind es schließlich auch nicht und wir haben Angst, Todesangst, völlig begründet: “Ich bin umzingelt von Gefährdungen, ich bin immer völlig auf mich alleine gestellt, denn es wird nie jemanden geben, der mir irgendwie helfen könnte. Und das ist das Weltbild des Erwachsenen.” Bei der Reise von dem einen in das andere Weltbild haben Millionen von Lesern, Kinder und ältere Kinder, Harry Potter voll Sehnsucht begleitet, als könnte er es ein bisschen für sie übernehmen, den notwendigen Schritt, an dessen Nichttun jeder jeden Tag ein bisschen mehr stirbt. Den erwachsenen Menschen zeichnet aus, dass er mit diesen Gefährdungen umzugehen weiß, dass er sie kennengelernt hat, seine Ängst gespürt hat und ihnen zu begegnen weiß.
Und nein, wieso sollte man seine Eltern hassen? Ist dieser Hass nicht vielmehr Ausdruck des Unvermögens, ein eigenes Leben zu errichten. Selbst endlich erwachsen zu werden? Und wieso sollte man seinen Eltern verzeihen? Was gäbe es da zu verzeihen? Unsere Eltern haben uns gezeugt und erzogen, so gut sie es konnten vorbereitet auf das, was jenseits der heilen Welt auf uns wartet. Und vielleicht waren sie darin nicht besonders gut. Doch all das spielt keine Rolle, als dass es die Aufgabe jedes einzelnen ist, seinen Weg der Initiation zu gehen. Insofern, danke Mama, dass Du mich an diesen Punkt begleitet hast. Ich muss nun aber alleine weitergehen…
Artwork by Eva von Platen
No comments:
Post a Comment